Hat mein Tier Schmerzen?
Hat mein Pferd Schmerzen? „NEIN, MEIN PFERD HAT KEINE SCHMERZEN!“
So oder ähnlich starten viele Gespräche mit Besitzern. Exemplarisch habe ich das Pferd genannt, man könnte die Tierart aber auch mit Hund, Katze, Meerschweinchen oder anderem ersetzen. Anlass für diesen Post war eine Fortbildung zum Thema „Schmerzmanagement beim Pferd“ in der vergangenen Woche, die ich absolviert habe.
Mehrmals wöchentlich führe ich das darauf folgende Gespräch. Wer jetzt meint, dies läge daran, dass Besitzer das Leiden des Tieres nicht wahrhaben wollen, den muss ich zumindest für den überwiegenden Teil meiner Patienten enttäuschen.Wenn Besitzer den Schmerz ihres Tieres leugnen, dann zumeist aus reiner Unwissenheit. Denn schließlich sind sie der Meinung ihren Liebling zu kennen und zu einem großen Teil entspricht dies der Tatsache. In Summe vor allem auch sicherlich viel besser als ich, wo ich die Tiere im Alltag meist nicht kenne!
Vermutlich kennen auch Kinderärzte diese Konversationen. Ähnlich wie kleine Kindern können unsere Tiere eben leider nicht äußern ob oder was ihnen wehtut. Sie sind darauf angewiesen, dass wir dies erkennen!
Genau diese Wahrnehmung von Schmerzäußerungen ist ein nicht unerheblicher Teil der sechsjährigen Lehre im Tiermedizinstudium. Kann man also von einem Besitzer erwarten, dass er dazu ohne „Anleitung“ in der Lage ist?
Die Antwort lautet ganz klar: Nein!
Jede Tierart hat ihre eigenen Signale Schmerz und Unwohlsein zu äußern, hinzu kommen noch individuelle Besonderheiten des einzelnen Haustieres. Dies erlernen zu wollen sollte aber natürlich jeder Besitzer anstreben.
Die Erläuterungen auf meine anschließenden Nachfragen enthalten oft die gleichen Antworten. Die Top 3 sind:
„Der frisst aber noch“
„Der will sich aber noch bewegen und spielt noch total viel“
„Ich kenne mein Tier, glauben Sie mir – der hat keine Schmerzen!“
Und genau der letzte Satz entspricht häufig nicht der Realität. Bei der Aufnahme der Schmerzanamnese erfrage ich für Besitzer banal wirkende Dinge wie „War er schon immer so kopfscheu?“ „Gähnt ihr Pferd viel und wenn ja wann?“ „Ist das Futter oder der Bereich um den Napf nass nach dem Fressen?“….
Aber all diese unscheinbaren Dinge sind darauf ausgerichtet, die speziesspezifischen Schmerzäußerungen zu erfassen um mir ein umfassendes Bild des Leidensdrucks des Tieres schaffen zu können.
Zunächst möchte ich mich dem allerhäufigsten Mythos widmen: „Der frisst aber noch“
Dadurch, dass ich als Schwerpunkt Zähne behandle führe ich diese Diskussion zumeist einmal am Tag. Leider ist die Futteraufnahme vollkommen ungeeignet um zu beurteilen, ob ein Tier Schmerzen erleidet. Entweder ist der Kandidat eh mäklig, häufig bei Katzen, oder aber er ist, überspitzt gesagt, bereits kurz vor dem Ableben. Dies hat schlichtweg mit dem tief verankerten Überlebensdrang unserer Tiere zu tun. Bis ein Haustier komplett aufhört zu essen, befindet man sich meist schon in einer handfesten Katastrophe. Oft ist die Menge aber schon reduziert und der Besitzer kann dies, gerade bei Pferden, nicht überblicken. Er wundert sich dann, dass das Pferd möglicherweise an Gewicht verliert, obwohl die Futteraufnahme doch noch vorhanden ist. Es ist kaum vorstellbar, welche Zahnbefunde ich schon gesehen habe und die Pferde trotzdem noch entsprechend fraßen! Menschen hätten längst kapituliert. Die noch vorhandene Futteraufnahme ist also als Schmerzanzeichen absolut ungeeignet!
Denn wenn zum Beispiel aus einem Zahn oder einer Fistel der Eiter läuft, dann hilft alles leugnen und schönreden mit der Futteraufnahme nicht – das Tier erleidet Schmerzen und hat ein Anrecht auf Hilfe! Oder würden Sie mit einem eiternden Zahn rumlaufen, weil Essen ja noch irgendwie geht?
Beim Pferd gibt es seit einigen Jahren den sogenannten „Horse Grimmace Scale“. Dieser Bilderchart zeigt verschiedene Abbildungen von Pferdeköpfen mit dem Fokus auf einzelnePartien. Bild 1 zeigt ein gesundes Pferd, Bild 2 ein moderates Schmerzzeichen, Bild 3 ein hochgradiges Schmerzerleben.
Nähere Infos dazu:
https://www.schmerz-bei-tieren.de/pferd-schmerzen
Derzeit erhalten alle Zahnpatienten von mir einen solchen Bogen für ihre Unterlagen. Manchmal sind die Anzeichen so subitl, dass es für den Besitzer Zeit bedarf, die Signale zu erkennen und richtig zu deuten. Es ist aber noch kein Meister vom Himmel gefallen!
Mythos 2: der Pferd gähnt viel, es ist müde.
Falsch! Häufiges Gähnen beim Pferd, insbesondere vor oder nach dem Reiten, beim Putzen oder in aufregenden Situationen ist ein solider Hinweis auf Magenprobleme, teils auch Magengeschwüre. Dabei ist nicht ein einmaliges Gähnen in der Sonne dösend auf der Koppel gemeint. Aber mehrfach hintereinander, stets in ähnlichen Situationen muss es unbedingt ernst genommen werden.
Mythos 3: Das Pferd lässt sich nicht (mehr) am Kopf anfassen, es ist einfach kopfscheu.
Sicherlich gibt es manche Pferde, die dies nicht mögen. Lässt sich aber ihr Pferd vorne nicht die Lippe anheben und kneift diese eng an die Zähne, so ist dies häufig ein Anzeichen für schmerzende Schneidezähne.
Mythos 4: Das Pferd atmet mit dem Bauch und bläht etwas die Nüstern – es ist eben warm.
Zugegeben: dies kann in seltenen Fällen und bei hohen Temperaturen der Fall sein. Aber auch hier steckt meist entweder ein Atemwegsproblem dahinter, häufiger ist eine gesteigerte Atemfrequenz aber auch ein Hinweis auf Schmerzen.
Mythos 5: Der Hund hechelt viel – ihm ist warm.
Analog zu Mythos 4 deutet beim Hund eine verminderte Belastbarkeit mit starkem Hecheln, insbesondere auch zu Hause, entweder auf ein mögliches Herzproblem hin oder aber anderweitige Schmerzen, nicht selten im Bewegungsapparat, auch ohne erkennbare Lahmheit.
Im folgenden eine kleine, sicherlich nicht vollständige Zusammenfassung für Hund, Katze und Pferd.
Mögliche Schmerzanzeichen des Hundes:
Wiederkehrendes Hecheln, Reproduzierbares Schmatzen oder Lecken des Maules beim Abtasten gewisser Körperstellen, deutliche Muskelspannung einzelner Körperpartien, Unruhe und Wandern, eine aufgekrümmten Brust- und Lebendwirbelpartie, Zögern Treppen zu laufen oder ins Auto zu springen, Kopfscheuheit, vermehrtes Belecken einer Körperstelle
Mögliche Schmerzanzeichen der Katze:
Verkriechen, reduzierte Futteraufnahme, struppiges Fell, häufiges Fauchen, ungewohnte Aggressivität gegenüber Menschen und Artgenossen, Unsauberkeit, eine aufgekrümmten Brust- und Lebendwirbelpartie,
Mögliche Schmerzanzeichen des Pferdes:
Kopfscheuheit, dauernde Gewichtsverlagerung im Minutentakt von einem Bein auf das andere, das Pferd legt sich nicht mehr hin, eine verkrampfte Nüsternpartie, hoher Muskeltonus, eingekniffene, matte Augen und ein verengter Lidspalt, das Gebiss wird im Gegensatz zu früher nicht mehr gerne genommen, Ohrenspiel vermindert bzw. sie die Ohren zusammengezogen und abgeknickt, deutlich sichtbare Bauchatmung, häufiges Gähnen, ungewohnte Aggressivität gegenüber Menschen und Artgenossen, vermehrtes „Giften“, das Pferd lässt sich nur noch schwer einfangen oder verweilt nur noch in der Nähe der Futter/Tränkestelle auf der Koppel, deutlich gestiegene Bissstellen anderer Pferde (Das Pferd ist geschwächt, die anderen Herdenkollegen nutzen die Chance die Rangordnung neu auszufechten), Gewichtsverlust
Dies alles können nur Richtlinien für den Besitzer sein. Am Ende kann ein Außenstehender, der das Pferd selten sieht, oft besser neutral beurteilen, wie das Tier wirkt. Diese „Betriebsblindheit“ beim eigenen Tier ereilt übrigens auch uns Tierärzte und ist keine Schande! Auch wir konsultieren dann einen Kollegen.
Wenn jedoch ihr Tierarzt äußert „Ihr Tier hat Schmerzen“ dann hören Sie bitte darauf und versuchen nicht dies weg zu argumentieren. Um dies zu erkennen haben wir eine lange Ausbildung durchlaufen und der Hinweis darauf wird ohne Vorwurf an Sie gestellt – sondern weil wir Ihrem Liebling helfen möchten. Kein Tier sollte Schmerzen leiden!
Gestehen Sie uns zu, dass wir dies von Außen und aufgrund unseres Berufes dies meist besser beurteilen können, als man es selbst als emotional involvierte Bezugsperson kann.
Eure Lena Bollinger
Foto: Auch diese Katze fraß trotz Nadel im Maul mit dazugehörigem Bindfaden im Magen noch und war nur seit einigen Tagen etwas „unleidlich“
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